11 #Bildung 1a

„Heute wird durch die Corona-Krise sichtbar, was die Menscheit dringend braucht: die Besinnung auf die Zugehörigkeit zum lebendigen Sein der Welt“ (Christoph Quarch)

Der Karnevalswitz 2021
Der Karnevalswitz 2021

BILDUNG -eins-

Im Stadtanzeiger Magazin vom 18. Januar 2021 ist für den „Resilienz-Trainer“ Sebastian Mauritz die „4711-Atmung“ eine wichtige Übung um auf die akuten Stresssituationen, aufgrund der Corona-Krise zu reagieren. 4 Sekunden einatmen, dann 7 Sekunden ausatmen und dies 11 Minuten lang durchziehen.

„Schule und Lockdown: Was dazugelernt?“ titelte die Süddeutsche Mitte Dezember 2020. Die ZEIT fragte: Wofür lernen wir, fürs Leben?“ „Lehrer brauchen Nachhilfe“, „Bildungskatastrophe droht“. Täglich überschlagen sich die Schlagzeilen. Politiker sprechen dabei gerne von der Notwendigkeit der „Betreuung“ der Schülerinnen. Als Allheilmittel für die Inhalte wird schnellstmöglich die komplette Digitalisierung aller Schulen angesehen. Jede Schülerin muss ein passendes Endgerät haben, das scheint zu reichen.

Offensichtlich sind wir angekommen in einem Zustand, der für die Lebensfähigkeit im individuellen Bereich, die Notwendigkeit eines persönlichen Coaches, Beraters, Mentors oder Begleiters für jeden erfordert. Selbst für den täglichen Spaziergang benötigen viele einen Hund, ohne den sie sonst nicht vor die Tür gehen würden.

Im schulischen Bereich scheint das Überleben der deutschen Bildungsnation und jedes Einzelnen in den Händen von digitalen Endgeräten. Was in der Diskussion fehlt, ist ein möglicher Zusammenhang zwischen beiden Zuständen.

Die öffentliche Debatte zu Corona-Zeiten zeigt, dass es uns kaum gelingt, angemessen mit der Stresssituation umzugehen. Die Welt scheint sich zweigeteilt zu präsentieren. Leugner und Befürworter. Schubladendenken beherrscht die Diskussion, der Riss geht bis in den Familien-, Nachbarschafts- und Freundeskreis hinein. Stigmatisierung findet statt.

Wir leben in einer Zeit, in der der Zugriff auf Informationen unendlich ist, jede/r kann sich dank dieses Zugriffs sein Weltbild in kürzester Zeit basteln und findet, dank der sozialen Medien, auch genügend Zuspruch, um sich bestätigt zu finden.

Angst ist derzeit das vorherrschende Gefühl. Angst vor dem unsichtbaren Virus, Angst vor der eigenen Meinung, Angst vor der Meinung der anderen, verbunden mit dem Problem: unser geschlossenes Weltbild kennt diese Angst vor dem Unbekannten nicht mehr. Dank des wissenschaftlichen Fortschritts glauben wir alles zu kennen, alles zu wissen, alles zu können. Seit 250 Jahren sind wir dabei, die uns bekannte Welt bis ins Elementarteilchen zu zerlegen, zu analysieren, zu vermessen, zu beurteilen, zu verwerten.

Seit den Zeiten von Rene Descartes hat sich die Menschheit zum Beherrscher der Welt und darüber hinaus erkoren. Gott ist tot und wir haben seinen Platz übernommen. In unserem Universum zählen Daten und Fakten, alles ist berechen- und planbar geworden. Alles wird stetig besser, vor allem wird es mehr, alles wächst beständig, alles muss wachsen, dass nennen wir Fortschritt. Wir haben uns dem beständigen „Vergleichen“ verschrieben. Wir müssen stets besser, schneller, größer, schöner, effektiver, schlauer sein. Wir müssen uns abgrenzen. Besser sein als der Andere ist unser wichtigstes Kriterium, ob zwischen Staatengemeinschaft, Staaten, Regionen, Städten, Dörfern, Unternehmen, Familien, Ethnien, Religionen, Kulturen .. die Unterschiede werden fett unterstrichen und herausgestellt, damit sie besser in die Schublade hineinpassen. Das WIR gilt nur für unsere gemeinsame Schublade, innerhalb der Schublade regiert wieder das ICH.

Individualität ist eines der Kennzeichen unserer Zeit, wir haben ihm den Namen Freiheit gegeben und beziehen das stets auf uns ganz persönlich. Zusammenhänge konstruieren wir uns entsprechend unserer Faktenlage. Doch unser modernes Gesellschaftsmodell beruht auf Komplexität und wir sind allein nicht mehr in der Lage damit umzugehen, nie wurde dies deutlicher als in der Corona-Pandemie. Die Angst vor diesem unsichtbaren Virus geht um und wir verlangen nach Risikominimierung, nach Sicherheit aber auch gleichzeitig nach persönlicher Freiheit. Wir pauschalieren in Gut und Böse, in Richtig und Falsch, in Wir und Die, in Fakten und Meinung. Wir verlangen vom Staat einen präzisen Fahrplan aus der Krise heraus und beschweren uns sofort, wenn es nicht unser Weg ist. Armin Nassehi beschreibt es so: „Wir leben in einer individualistischen auf rationale Entscheidungen setzende gegenwartsorientierten Kultur, in der Freiheit nur dann funktioniert, wenn wir aus freien Stücken das RICHTIGE tun“. Aber genau das haben wir „verlernt“.

Wir stehen mitten in einer Transformation von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft, in welcher die Corona-Pandemie schonungslos unser kulturelles Versagen offenlegt. Wir müssen uns in einer begrenzten Umwelt solidarisch mit allen anderen Lebewesen zeigen und dabei der Tatsache ins Auge sehen, dass wir aus dem globalen Norden über unsere und vor allem die Verhältnisse aller anderen, besonders im globalen Süden, leben.

Wir versuchen diese Konflikte um Risiken, Freiheit, Angst, Arbeitsplätze, Gesundheit, persönliches Wohlergehen … mit den alten (bisher bewährten) Mitteln der Industriegesellschaft zu lösen (Zentralisierung, Recht haben, Spezialisierung, technische Lösungen, Zahlen und Fakten, kurzfristige Erfolge, den Blick nur auf uns gerichtet …). Nach Nassehi ist kollektives Handeln in einer modernen komplexen Gesellschaft nahezu unmöglich, es sei denn, man setzt es politische autoritär durch.

Die ersten Rettungsmaßnahmen zu Beginn der Pandemie galten und gelten immer noch den Müttern und Vätern der Industriegesellschaft: der Auto-, Pharma-, Agrar-, Flugzeug- Chemie- bis Energieindustrie. Es geht um die Verteidigung alter Denkstrategien, Machtpositionen und Produktionsweisen, die in einer Zeit entstanden sind, als Unternehmen, das Militär und auch die Schulen gleichartige Strukturen hatten, die auf Standardisierung, Gehorsam, Kontrolle, Dressur und Herrschaftswissen beruhten. Der Sinn dieser Strukturen, die weiterhin existieren, erschließt sich immer weniger, angesichts der Fragen und Probleme, vor denen wir stehen. Der tägliche Blick in die Zeitung verdeutlicht dies: Großprojekte, gleich wo sie durchgeführt werden und aus welchem Bereich sie kommen, führen sozial, kulturell und finanziell regelmäßig ins Desaster. Der Blick auf Deutschland reicht: Stuttgart21, die Kölner Oper, Berliner Flughafen, Braunkohletagebau, Infrastrukturmaßnahmen, Tunnelbauten jeglicher Art, gigantische Bürokomplexe, die demnächst leer stehen werden -wg. Homeoffice, der Ausbau des Straßennetzes -was aber zu keiner Entlastung des Verkehrs, sondern nur zu mehr Versiegelung führt. Unsere technischen, auf umfangreichen Berechnungen beruhenden Lösungen, führen im großen Stil immer wieder zu neuen Problemen. Wir vertrauen weiterhin auf das Denken aus dem Industriezeitalter und suchen dort nach Lösungen für die Probleme der Zukunft.

Dieses lineare Denken hat uns in der Vergangenheit viele und großartige Erfolge in vielen Bereichen (Medizin, Wohlstand für viele, Ernährungssituation, Freizeitmöglichkeiten ..) beschert, führt uns aber derzeit an den Abgrund -zumindest an den unserer menschlichen Zivilisation (Klimawandel, Artensterben, Müllberge, Waldsterben, Pandemien, Wasserknappheit ..). Zusätzlich beflügelt dieses Denken antidemokratische / autokratische Entwicklungen weltweit (China, USA, Russland, Türkei, Ungarn, England und wer wird bei uns derzeit hoch angesehen?).

Was wir stets vergessen: technische Fragen sind immer kulturelle Fragen. Aber wir sind weiterhin auf dem Weg der Herrschaft der Technik über die Kultur, genau hier stellen sich die Fragen nach der Bildung und all seinen Institutionen. Unser Bildungssystem hat sich in den letzten Jahrhunderten immer an der Industriegesellschaft orientiert, ja, es war der notwendige und treibende Faktor. Schule und Universität (später auch noch die Weiterbildung) musste und muss stets das liefern, was die Industrie benötigt. All das, was heute in der Wissensgesellschaft notwendig ist, kommt dort nicht vor. Das (humanistische) humboldtsche Bildungsideal gab/gibt es nur für die gesellschaftliche Elite (Privatgymnasien, Internate ..).

Doch Kreativität, Neugierde, Vielfalt, Eigenverantwortung, Kultur, Umgang mit Komplexität sind heute für ALLE gefragt. Dem Leben Sinn und Orientierung geben, humanistische Bildung im ursprünglichsten Kern. Stattdessen beherrschen Pisa, abfragbares Wissen, Fachidioten, Spezialisierungen und Fehlerlosigkeit weiterhin unsere Bildungsinstitutionen.

Eine Vorbereitung auf die Konflikte des täglichen Lebens und deren Umgang findet nur marginal statt. Unser industrieller Glaube an fertige, beherrschbare Lösungen bestimmt die Lehrpläne. Die „harten“ Fächer (Mathe, NW, Lesen) bestimmen über Erfolg. Nur sie sind gegenüber den „weichen“ Fächern, wie Kunst, Musik, Sprache, Sport, (Ethik findet sich erst gar nicht im Fächerkanon) auch weltweit digital messbar und nur das zählt. Was nicht messbar ist, findet keine Beachtung.

Finden wir nicht auch dies in der Pandemie wieder? Seit einem Jahr sterben über 40% aller Corona Toten in den Alten- und Pflegeheimen und wir wissen immer noch nicht, wie genau das Virus übertragen wird und was da los ist? Wir bekämpfen das Virus mit mathematischen Berechnungen (tägliche Inzidenzen, Statistiken, Fallzahlen) und versprechen uns technische Lösungen von Impfstoffen, Medikamenten und der „Apparatemedizin“ in den Intensivstationen. „Die Zahlen müssen nach unten“ lautet der gebetsmühlenartig vorgebrachte Satz der Politik. Vergessen wir dabei nicht die „weichen“ Lebenskriterien, wie persönliche Kontakte, gemeinsames Lernen, persönliche Betreuung von Alten und Pflegebedürftigen? Auch die Gesundheit hat sich der „Apparatemedizin“ untergeordnet. Der technische Stand bestimmt, wie lange wir leben dürfen / sollen / müssen / wollen. Dies hängt natürlich nicht zuletzt vom Geldbeutel ab.

In Rekordgeschwindigkeit haben wir Impfstoffe entwickelt, um dann bei der Verteilung kläglich zu versagen. Ein aktueller Blick auf die Weltkarte genügt, um zu sehen, wo derzeit gegen Covid-19 geimpft wird, es ist der globale Norden, im Globalen Süden ist noch keine Impfdosis angekommen (u.a. ZEIT 06/21).

Ein Lockdown jagt den nächsten, wir testen alles nach täglich neuen Kriterien, wir schließen und öffnen Bereiche und Institutionen nach Inzidenzwerten, und wechselnden Faktoren, wir bauen riesige Impfzentren, aber irgendwie scheint es niemanden zu kümmern, was mit den Menschen in all den gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen passiert. Unsere „Betreuungsinstitutionen“ (einige nennen es noch Kita oder Schule) sollen endlich wieder öffnen, um den Druck zu Hause zu reduzieren. Wen werden all die zerstörten Schülerseelen, die psychischen Erkrankungen, die sozialen Schieflagen interessieren, wenn „Covid-19“ vorbei ist?

Politiker beschwören uns täglich in den Medien, dass es um das Leben eines jeden einzelnen Menschen geht, gleichzeitig wird das Tempolimit auf den Autobahnen nicht angetastet, der Feinstaub nicht reduziert, der Klimawandel nicht beachtet. Jetzt müssen wir erstmal die Pandemie besiegen, das ist die Denkweise der Industriegesellschaft, kleinschrittig eins nach dem anderen. Zusammenhänge interessieren da nicht. „Das Konzept der Resilienz als Gesellschaft, ist genauso wichtig, wie das der Immunität“ (Flaßpöhler)

Wir müssen weg vom Entweder -oder Denken, denn große Veränderungen kommen u.a. durch den Klimawandel oder auch die zunehmende Digitalisierung auf uns zu. Durch die Pandemie wird uns bewusst, dass wir nicht über die Werkzeuge und die täglichen Routinen verfügen, um durch gemeinschaftliches Verhalten diesen Herausforderungen begegnen zu können. Die großen Herausforderungen lassen sich aber nur gemeinschaftlich lösen, wir müssen also erheblich mehr in gemeinschaftliches Denken und Handeln investieren.

Was hat das alles mit Bildung zu tun?

Es gibt seit Jahrzehnten viel zu tun in Schulen, Universitäten und sonstigen Bildungseinrichtungen, um die Gesellschaft auf den Wechsel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft vorzubereiten. Was uns derzeit einfällt, ist die totale Digitalisierung all dieser Bildungseinrichtungen -eine Methode der Industriegesellschaft. Komplexität erschließt sich so nicht.

  • Zusammenhänge machen die Welt aus, also angewandtes Wissen, das erschließt sich nicht durch Auswendiglernen. Es braucht Erschließungswissen. Das bisherige Denken hat den Zusammenhang zwischen dem Ganzen und der Person zerstört
  • Wissen sollte angeeignet werden um sich in der Welt zurechtzufinden und Handlungskompetenz zu erreichen, hierzu ist der Diskurs, der Streit, der Umgang mit Vielfalt und Mehrdeutigkeit wichtig und muss ständig geübt werden. Mehrdeutigkeit bedeutet, dass man die Welt nicht mehr beherrscht, sondern die Welt versteht. Konflikte bestehen aus dem Zusammenhang von Gefühlen und der Vernunft.
  • Unsere kulturelle Sackgasse besteht u.a. darin, dass wir uns über Abgrenzung, Vorurteile und Distanz definieren, wir wollen alte Strukturen erhalten.
  • Kreativität erschließt im Gegensatz zur Dogmatik, eigene Zugänge zur Welt.
  • Wir brauchen den selbstbestimmten Umgang mit der digitalen Blackbox, die unser Leben beherrscht und die Unterschiede vernichtet. Wir müssen lernen, Zahlen und Daten nicht blind zu vertrauen, sondern in ihrem Kontext zu verstehen. Humanismus will Erkenntnis, nicht recht haben.
  • Denken ist nicht synchronisierbar, weil sich menschliche Interessen, Eigenheiten, Originalität dramatisch unterscheiden.

All das benötigt die Veränderung unseres starren Bildungssystems. Bildung,

  • muss der Ungewissheit wieder Raum geben
  • muss Freiräume nutzen für eigene Projekte.  M. J. Hartung schlägt einen Frei-Day for Future vor, also einen Tag pro Woche an dem sich Schüler ihre eigenen Projekte suchen und dabei fürs Leben lernen
  • ist mehr als reine Geistesarbeit (es geht auch um Wohlergehen, soziale Gerechtigkeit, Angstfreiheit)

Werden wir durch eine veränderte Atmung genügend Resilienz gegen das verkrustete Bildungssystem und seine gesellschaftlichen Folgen aufbauen oder werden wir wieder in unsere alte Schnappatmung verfallen, wenn die nächste Pandemie zum erneuten Lockdown führt, dem Klimawandel ganze Küstenbereiche zum Opfer fallen oder eine Migrationswelle aus dem Süden vor unserer Haustür steht, da unser Lebensstil dort die Lebensgrundlagen zerstört hat? Bildung im umfassenden Sinne könnte ein Baustein sein, um uns unserer konfliktreichen Zukunft offen zu stellen.

Georg Steinhausen 10. Februar 2021

Wer mehr lesen möchte:

Wolf Lotter „Zusammenhänge“, Edition Körber 2020

Christoph Quarch „Das Virus, der Frühling und die Freiheit / ReMedium -Sicherheit ein Essay 2021

ZEIT

24/2020 Manuel J. Hartung “Frei-Day for Future”

49/2020 Ekkehard Winter „Lehrer brauchen Nachhilfe“

54/2020 Klaus Zierer „Für die Freunde lernen wir“

02/2021 Jeanette Otto „Fürs Leben“

SZ (Süddeutsche Zeitung)

15.12.2020 Christian Füller „Schule und Lockdown: Was dazugelernt?“

18.12.2020 Svenja Flaßpöhler „Man kann Risiken auch ganz bewusst bejahen -Interview

07.01.2021 Klaus Zierer „Schule in der Pandemie“

07.02.2021 Armin Nassehi „Tu was du willst, aber Wolle das Richtige“

Veröffentlicht von Georg Steinhausen

Nach über 40 Jahren Lehrerdasein, nach 30 Jahren Schulcircus Radelito, nach 15 Jahren Austauschprojekt SOMOS-Wir sind, mache ich mir jetzt so meine Gedanken .... und schreibe einiges davon auf

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