LandArt *Bildung in Corona-Zeiten
„Also, wir haben uns da was ausgedacht und das dann gebaut“, sagt Henri am Ende eines spannenden Unterrichtstages im Wald. Der Projektauftrag lautete: „Und jetzt seid ihr dran: konstruiert, experimentiert und gestaltet ganz frei. Lasst es schwingen, lasst es hängen, lasst es baumeln, taumeln, flattern oder fliegen“.
LandArt, ein Projekt an einer Kölner Schule zu Corona-Zeiten, einzigartig, einerseits.
Andererseits scheint gleichzeitig einiges schief zu laufen an den Schulen unseres Landes. Es vergeht derzeit kein Tag, an dem die Schule nicht zum Streitpunkt wird. Da werden Vorurteile gegen Lehrer wieder aufgetaut, Sprüche aus der Mottenkiste erwärmt, es macht sich eine fehlende Wertschätzung für die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer breit. Das tägliche Hin und Her befeuert die Misere: Distanzunterricht, digitaler Unterricht, Wechselunterricht, Hybridunterricht, Online Unterricht, Unterricht in halben Klassen, Lüften, Präsenzunterricht, Hygienemaßnahmen, Abstand, fehlende Endgeräte, Bildungsverluste, soziale Benachteiligung, Homeschooling, Maskenpflicht, Bildungsgerechtigkeit, all das verzwirbelt sich mit der Frage: Ist Schule ein „Infizierungs-Hotspot“ ein „Inzidenz-Treiber“ in der Corona-Pandemie? Laut RKI sind das die Schulen nicht („keine Treiber der Pandemie“ SZ 11.12.20, die ZEIT 7/21 weist diesbezüglich auf neue Leitlinien für einen Präsenzunterricht unter Corina-Bedingungen hin). Die Schulen sollen -schrittweise- Ende Februar wieder öffnen, sie sind zu einem Gradmesser für Sinn und Wahnsinn in der Corona-Pandemie geworden, aber es fehlt offensichtlich immer noch an einer klaren Strategie – von bundeseinheitlichem Vorgehen ganz abgesehen.
Was derzeit in den Schulen passiert hat mit Bildung im ursprünglichen Sinn wenig gemein. Regeln umsetzen, Abstände wahren, Kontakte vermeiden, Masken kontrollieren, Laufwege einhalten, Sammelpunkte organisieren, Risiken minimieren, Husten vermeiden, Verdachtsfälle aussortieren, Quarantäne organisieren, Unterrichtsausfälle kompensieren. Kurz: es scheint nur darum zu gehen, formale Strukturen aufrechtzuerhalten. All dies erfordert den vollen Einsatz von Schulleitungen und Kollegien, bei sich fast täglich ändernden Vorschriften. All dies passiert unter der Überschrift Bildungschancen verwirklichen, sozial Schwache nicht verlieren, um Anschluss zu halten im weltweiten Wettbewerb um die schlausten Köpfe, und die beste Ausgangsposition. Wenn die Pandemie vorbei ist und es wieder um die Frage geht: Wie erreichen wir schnellstmöglich wieder das alte Niveau, wie können wir die Lücke zu den vor uns stehenden Ländern im internationalen Bildungsranking schließen.
Mir kommt es so vor, als habe ich das, was derzeit durch die Pandemie bedingt in Schulen offensichtlich wird, schon irgendwie in meiner aktiven Lehrerzeit erlebt: Unklare, sich widersprechende Anweisungen seitens der Schulbürokratie, überforderte Schulträger, die ihren Aufgaben nicht gerecht werden, unzureichende und mangelhaft ausgestattete Schulen. Klassengrößen, die unserer wirtschaftlichen Potenz Hohn sprechen, fehlende Lehrerinnen und eine Bildungspolitik, in der Wertschätzung nicht vorkommt.
Fast immer war und ist es das mangelnde Geld und der grundsätzliche politische Streit, die Verbesserungen verhindern. Wir haben immer noch kein Schulsystem, das die Bildung des einzelnen Kindes, entsprechend seinen Möglichkeiten, in den Vordergrund stellt. Das mittlerweile vier- oder fünfgliedrige Schulsystem zementiert eher die soziale Selektion. Jetzt soll „Einheitlichkeit“ im Lernen realisiert werden, durch den massenhaften Einsatz digitale Endgeräte. Es soll, durch technische Lösungen die Pandemie aus der Schule herausgehalten und zugleich die Bildung gerettet werden. Filteranlagen für jeden Unterrichtsraum, digitale Endgeräte für alle, Homeschooling als Unterrichtsersatz.
Stehen wir derzeit vor dem Problem, eine virale Seuche durch persönliche Kontakte weiterzuverbreiten oder an ihr zu erkranken, so bestand das Problem früher darin, gefährlichen und ebenfalls unsichtbaren Stoffen ausgesetzt zu sein, welche direkt oder indirekt die eigene Gesundheit beeinträchtigen konnten: Formaldehyd, PCB und Asbest.
Formaldehyd kam in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in fast allen Gegenständen des täglichen Lebens vor, vom Kleber, über Farben bis zum Konservierungsmittel. Es verursacht zunächst Reizungen der Haut, der Augen und der Schleimhäute und ist, in der entsprechenden Dosis, krebserregend und verändert das Erbgut. Genau das gab es bei uns in erhöhter Konzentration im Schulgebäude.
PCB (Polychloriertes Biphenyl), eine giftige, krebsauslösende Substanz, die als sog. Weichmacher in vielen damals verbauten Bereichen vorkam, tropfte aus den Transformatoren und dann aus den Abdeckungen der Leuchtstoffröhren in den Fluren und Klassenräumen.
Asbest wurde schließlich Anfang der 90er Jahre im kompletten Industriebau unserer Schule entdeckt und musste aufwändig mit einem Unterdruckverfahren entfernt werden. Das Schulgebäude war dabei im monatlichen Turnus in den verschiedensten Bereichen nicht zugänglich, unser Mikrokosmos Gesamtschule musste wöchentlich umgeplant werden. Vorsicht Lebensgefahr! stand an jeder Eingangstür zur Schule.
Bei Corona ist das anders. War früher die Gefahr mehr oder weniger lokalisierbar, so ist sie heute „weltweit unsichtbar“ und erhöht dadurch die Angst. Angst nicht vor einem „gefährlichen Gebäude“, Angst jetzt vor allen anderen Menschen. Die AHA+L Regeln sollen das Risiko vermindern und wir sind bei der Angst vor jedem persönlichen menschlichen Kontakt angekommen. Wer 1,5 Meter Abstand unterbietet gilt als potentieller Überträger und damit als Risikofaktor. Diese Angst geht in den 13. Monat. Sinnliches, persönliches, direktes, anschauliches, erlebbares Lernen wird auf rein digitales Lernen umgestellt und reduziert, mit psychosozialen Folgen für viele Schülerinnen, wie man mittlerweile weiß (siehe u.a. ZEIT 06/2021 „Sorgenkinder“ oder die täglichen Berichte in den Zeitungen im Februar 2021).
Bildungsverluste drohen, die Schere zwischen armen und reichen Kindern öffnet sich täglich weiter. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Ausweitung der digitalen Bildung ist der Forderung nach allumfassender, digitaler Ausstattung für alle gewichen. Der FDP-Wahlkampfslogan von 2017 wird zu 100% umgesetzt: „Digital First. Bedenken Second“.
- Soll die Schule der Zukunft überwiegend im Homeschooling realisiert werden?
- Soll Bildung reduziert werden auf Daten und Fakten, auf Ja und Nein, auf richtig und falsch? Die digitale Welt des Computer kennt kein „Dazwischen“, kennt kein „Abwägen“, kennt keine Ambiguität (Mehrdeutigkeit), kein kreatives Chaos.
- Soll „Eindeutigkeit“ zum vorrangigen Zweck von Schule erhoben werden?
- Brauchen wir mehr überprüfbares, stets wiederholbares, mit aller Welt vergleichbares, digitalkompatibles Wissen, damit wir uns besser vergleichen können mit den Rechenkünsten der Eskimos, den Schreibkünsten der Finnen, mit dem naturwissenschaftlichen Können der Südkoreaner oder arabischen Lesekünsten?
- Wollen wir Bildung so weit herunterbrechen, mit dem Ziel uns digital vergleichbar zu machen?
Wenn es in den 70er, 80er, 90er Jahren in der Schule stank („Stinkeschule“ war der griffige Begriff), wenn der graue Beton zu öde war, oder es galt, gesellschaftspolitischen Forderungen nach besserer Bildung, Abrüstung, gegen die Atomkraft … Nachdruck zu verleihen, wurde der Unterricht häufig nach draußen, an einen anderen Lernort verlegt.
Projektlernen wurde initiiert, um die starren Strukturen des herkömmlichen schulischen Lernens aufzubrechen, teilweise wurde auch der Lernort umgestaltet, „bunt statt grau“, hießen solche Projekte. Wichtig war, dass Schülerinnen und Lehrerinnen (z.T. auch Eltern) gemeinsam lernten, gemeinsame Interessen bekundeten, sich gemeinsam „Neues“ erarbeiteten.
Also, Bildung in einem umfassenderen Sinn verwirklichen, war ein wichtiges Ziel. Natürlich mit den negativen Begleiterscheinungen von großen Klassen (33 SuS), riesigen Schulen mit 2500 SuS, mangelnder Ausstattung, zunehmendem bildungsbürokratischen Druck seitens Politik sowie den Anfeindungen einer stets besorgten, bildungsbürgerlichen Mittelschicht. Diese „Begleiterscheinungen“ verhinderten vielfach schon im Ansatz grundlegende Erfolge einer umfassenderen Bildung. Aber Erfolge liegen bekanntlich auch im gemeinsamen Tun, im Beschreiten neuer, unbekannter Wege, das war vielfach die Basis für Veränderungen.
Damals wie heute ist der Versuch wichtig, dem organisierten bildungspolitischen Chaos die eigene Initiative entgegenzusetzen, um wichtige Bildungsziele nicht aus den Augen zu verlieren: Lernen Fragen zu stellen, eigene Interessen zu vertreten, selbstbestimmt zu lernen, Unterrichtsziele und Methoden kritisch zu hinterfragen, gesellschaftliches Engagement einzuüben, das eigene Umfeld zu erkunden, sich selbst im Rahmen der gesellschaftlichen Struktur zu erleben ….. Seit damals sind viele neue Themenfelder entstanden, aber die Methoden zur Bearbeitung, auch und insbesondere im schulischen Rahmen, sind gleichgeblieben.
Dass wir ein Teil der Natur sind, dass unser Umgang mit der Natur Folgen hat, dass Klimawandel, Artenverlust, Pandemien, Migration, Hunger, Ungleichheit, Teil derselben Medaille sind, über all das wird zunehmend öffentlich und seit Neuestem auch im schulischen Kontext (Fridays for Future) nachgedacht und es werden gemeinsame Aktionen gestartet. Es sind Fragen und Probleme, die nicht digitalisierbar sind, sondern nur durch eigenes Tun erlebbar werden. Früher wie Heute.
Parallel dazu werden Unterrichtsbereiche, die sich mit uns als menschlichem Teil einer zusammenhängenden Welt beschäftigen aus dem „normalen“ Fächerkanon gestrichen (sie verlieren an Bedeutung), da sie natürlich auch bei den Pisa-Vergleichen nicht vorkommen, dort kommen nur Fakten, Zahlen und Daten vor, alles was man messen und klar bewerten kann. In NRW steht die Streichung des Faches Sozialwissenschaften zugunsten von Wirtschaftswissenschaften auf der Tagesordnung (KSTA 27.01.2021). Die Schülerinnen sollen auf unser perfektes (neoliberales) Wirtschafts-Wachstums-System vorbereitet werden, Fragen sind da eher störend. Mitmachen ist wichtig, dabei sein im Wirtschafts-Wachstums-Wunderland, darauf muss Schule vorbereiten, wird gefordert Teamarbeit wird zwar auf allen Ebenen der Arbeitswelt erwartet, aber die Ausbildung in allen Stufen ist auf individuelle Leistung fokussiert. Zusammenarbeit ja klar, aber die abfragbare Leistung muss individuell sein -in den entscheidenden Fächern und Bereichen.
Mitten in der Corona Pandemiezeit, hatte ich die Freude, das LandArt Projekt (organisiert in einer Schule in der Nachbarschaft) an einigen Tagen begleiten zu dürfen und fühlte mich gleich erinnert an das Lernen aus den 80er und 90er Jahren, als die Bildungsziele noch hießen: Chancengleichheit realisieren, soziales Lernen ermöglichen, politisches Lernen als Teil der Sozialisation erleben, problemlösendes Denken praktizieren, in einer selbstaktivierenden Lernorganisation.
Ein Projekt, angestoßen und organisiert von einer Mutter, die als Künstlerin schon vielfältige Projekte im Wald durchgeführt hat. Ein Unterschied zu früher: „damals“ kamen die Ideen und Aktivitäten direkt aus der Schule heraus und wurden dann -teilweise- von Eltern unterstützt. Aber Unterricht oder Projektlernen außerhalb der Schule unterliegt heute strengsten Regelungen und Verpflichtungen, ansonsten drohen Disziplinarverfahren und versicherungsrechtliche Konsequenzen. Risikovermeidung ist oberstes schulisches Ziel. Spontanität im schulischen Ablauf muss daher umfassend organisiert werden, eine Quadratur des Kreises. Die Corona-Pandemie zeigt deutlich welche Auswirkungen das hat.
Wenn es keinen ausgefeilten Plan gibt, stellt sich die Angst, vor „unrechtmäßigen Handlungen“ ein. Angst etwas falsch zu machen. Angst, eine Entscheidung für die Schule, vor allem für die Schülerinnen zu treffen, die nicht „von oben“ abgesegnet ist. Schulen, die einen eigenen Weg probieren (siehe Solinger Gesamtschule im Nov 2020 der Spiegel 3.11.20) werden „von oben abgestraft“. Es geht nicht um Sinn, sondern nur noch um Einhaltung von Regeln, wie sinnlos sie auch im Einzelfall sein mögen.
Wir wundern uns heute über „Querdenker“, „Hass im Internet“, „Fake-News“ …. Dabei ist es ein Fakt, dass wir bei all der digitalen Ausrichtung des Lernens von der Grundschule bis zur Universität die Bildung der individuellen Sensibilität verloren haben, das Nachdenken über uns selbst, über den Sinn all unseres Tuns. Bildung wurde ökonomisiert, der Output zählt, nicht der Mensch. Unsere „verordnete“ Fixierung auf Zertifikate, Kompetenzstufen, unsere „Bologna-Bildungs-Struktur“, welche Bildung in eine abfragbare, technisierte Lernmaschine verwandelt, hat mit der Folge eines „Kredit-Point-Systems“ zur Erreichung von Zertifikaten und Abschlüssen offensichtlich auch dazu geführt, das Nachdenken über kulturelle, ethische und moralische Werte als überflüssig anzusehen. Geld, Status, Wachstum, Konsum, das stete „Mehr“ sind die Kriterien des Lebens geworden.
Bei LandArt ist das anders: „Kinder erschaffen vergängliche Kunstwerke in freier Natur, bei frischer Luft“, also Corona-gerechte Bildung. Eine Begleitperson bemerkte abschließend: „Es ist faszinierend zu sehen, welche Energie der alternative Klassenraum Wald in den Kindern zum Leben erweckt“.
Ich möchte ergänzen: Unterricht umfassend in eine Geschichte einzubinden und für alle erlebbar zu gestalten ist eine perfekte Möglichkeit, in Zeiten dauerhafter Krisen die Schülerinnen darauf vorzubereiten, flexible Verhaltensweisen einzuüben, sie auf ein Denken in Zusammenhängen und auf die Notwendigkeit gemeinsamer Problemlösungen, das Aushalten von Konflikten, anderer Meinungen und in der Akzeptanz anderer Lösungsstrategien zu schulen. Diese Art von Unterricht bietet die Möglichkeit, Schülerinnen überhaupt Freiheit erleben und erlernen zu lassen, aus der heraus sowohl individuelle als auch gemeinsame Prozesse angestoßen werden. Ein Erleben, in dem die Gemeinschaft nicht als Einheit, sondern in der Aufspaltung vieler möglicher Gedanken repräsentiert ist.
Wenn uns Corona eines lehrt, dann die tägliche Erfahrung:
Es gibt keine eindeutigen Wahrheiten und keine klaren Lösungen in einer immer komplexer werdenden Welt. Die Zusammenhänge sind entscheidend, nicht die Menge der Informationen und deren digitale Verarbeitung. Empathie für die Mitmenschen, für andere Lebewesen und die Natur insgesamt wird entscheidend sein in unserer weiteren Entwicklung.
Bei LandArt ist das so: Schülerinnenäußerungen am Ende des Projektes: „Ich würde lieber draußen lernen als in der Schule“. „Unterricht in der Schule ist lahm, da müssen wir sitzen, zuhören und irgendwas machen“.
„Lasst es pendeln, lasst es schaukeln, lasst es triften, lasst es treiben, lasst es gleiten, lasst es segeln, lasst eurer Phantasie freien Lauf -lasst es schwimmen und schweben“, so hieß es in der Projektaufforderung. Ein solches Projekt „bietet in seiner Gesamtheit viele Möglichkeiten, um Schule neu zu erleben, Natur neu zu erleben und sich selbst neu zu erleben.“
Eine wunderbare Anleitung, um Schule und vor allem Bildung neu zu entdecken. Es ist notwendiger denn je.
Georg Steinhausen 15.02.2021